Unfall trotz geplanten Bewegungsablaufs

Unfall trotz geplanten Bewegungsablaufs

Liegen die in Art 6.2 UD00 (Verrenkungen, Zerrungen, etc) genannten körperlichen Verletzungen vor, besteht Versicherungsschutz ohne Hinzutreten der in Art 6.1 UD00 (Unfallbegriff) geforderten weiteren Voraussetzungen. Der Unfallversicherer hat sich für keine einschränkende Formulierung entschieden.

Sachverhalt

Der Kläger, ein Polizeibeamter, nahm an einem Auswahlverfahren der Cobra teil. Dabei hatte er unter anderem eine von der Wand ausgeklappte Sprossenwand mit einer Höhe von ca 3 m zu bewältigen. Er war mit Anlauf auf die Seite der Sprossenwand aufgesprungen und zwar so, dass er sich mit der rechten Hand an der obersten Sprosse festhielt, sich in der Folge mit dem Oberkörper über den Scheitelpunkt der Sprossenwand lehnte und sich mit der linken Hand an einer tiefer gelegenen Sprosse an der gegenüberliegenden Seite anhielt. In weiterer Folge zog er den Beckenbereich bzw die Beine hoch, schleuderte nach und sprang dann direkt auf den Boden. Er landete dabei mit dem linken Fuß, der den Hauptanteil des Körpergewichts bzw des Fallgewichts seines Körpers übernahm, um dann mit dem rechten Fuß nach Bodenkontakt sofort starten zu können. Dabei erlitt er eine vordere Kreuzbandruptur links, ein ausgedehntes Knochenmarksödem im Bereich der inneren Oberschenkelrolle bzw des Schienbeinkopfes und eine Überdehnung des Innenseitenbandes.

Der Unfallversicherer wandte ein, dass es sich bei diesem Geschehensablauf um keinen Unfall gehandelt habe. Dem Unfallbegriff sei immanent, dass der Bewegungsablauf im Zuge des Unfalls unbeherrschbar werde, eine beherrschte und gewollte Bewegungssituation, wie bei einem Sprung aus 3 m Höhe mit Vorbelastung des vorgeschädigten Knies in eine Drehbewegung nach rechts, um schnell zu starten, sei kein Unfall.

Relevante Bestimmungen der AVB

Dem Unfallversicherungsvertrag liegen die Klipp & Klar-Bedingungen für die Unfallversicherung 2012/Fassung 02/2016 (UD00) zugrunde.

Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

2. Als Unfall gelten auch folgende Ereignisse:

Verrenkungen von Gliedern sowie Zerrungen und Zerreißungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln sowie Meniskusverletzungen.

OGH-Entscheidung

Art 6.1 UD00 definiert den allgemeinen Unfallbegriff. Danach handelt es sich bei einem Unfall um ein plötzlich von außen auf den Körper der versicherten Person einwirkendes Ereignis, wodurch diese unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Ein von außen auf den Körper wirkendes Ereignis liegt vor, wenn Kräfte auf den Körper einwirken, die außerhalb des Einflussbereichs des eigenen Körpers liegen; der Begriff grenzt körperinterne Vorgänge vom Unfallbegriff aus, die regelmäßig Krankheiten oder degenerativen Zuständen mit Krankheitswert und damit der Krankenversicherung zuzurechnen sind (7 Ob 57/17h mwN). Für den Versicherten muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses (Krafteinwirkung auf den Körper) im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann (vgl RS0082022 [T1]). Zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Unfallfolge) muss ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen (vgl 7 Ob 200/18i mwN).

In Art 6.2 UD00 werden eine Reihe weiterer Umstände umschrieben, welche auch als „Unfall“ gelten. Der hier vorliegende Fall des Art 6.2 UD00 („als Unfall gelten auch“) kann nur so verstanden werden, dass damit Umstände dem Unfallbegriff gleichgestellt werden (Unfallsfiktion), die sich vom eigentlichen Unfall nach Art 6.1 UD00 unterscheiden (vgl 7 Ob 115/17p zu Art 6.2 AUVB 2006). Liegen die in Art 6.2 UD00 genannten körperlichen Verletzungen vor, besteht Versicherungsschutz ohne Hinzutreten der in Art 6.1 UD00 geforderten weiteren Voraussetzungen (vgl Maitz, AUVB 2017, 62 ff mwN), wobei sich die Beklagte – anders als andere Versicherungsunternehmen in Österreich – gerade für keine einschränkende Formulierung entschieden hat.

Durch den Unfall vom 5. 8. 2020 erlitt der Kläger eine in Art 6.2 UD00 beschriebene Verletzung, weshalb vom Eintritt eines Unfalls auszugehen ist, der nach den Feststellungen zu einer versicherten dauernden Invalidität führte.

Anmerkung

In meinem Blogbeitrag zu 7 Ob 76/22k habe ich einige vergleichbare Sachverhalte angeführt, bei welchen der OGH einen Unfall verneint hat. Die aktuelle OGH-Entscheidung gibt nun Anlass, einen genauen Blick auf diese vergleichbaren Fälle zu werfen.

Achillessehnenriss während der normalen Laufbewegung (7 Ob 1019/92): Einem Unfall liegt ein Vorgang zugrunde, der vom Versicherten zunächst bewußt und gewollt begonnen und zunächst in seinem Ablauf auch beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf den Versicherten einwirkt. Hier trat beim Kläger der Achillessehnenriß während der normalen Laufbewegung, also in der vom Läufer völlig beherrschten und auch gewollten Situation ein. Bedingungen werden leider keine zitiert.

Achillessehneriss im Zuge des Aufschlages beim Tennisspiel (7 Ob 118/00d). Ein Unfall iSd AUVB 1965 liegt bei einem Vorgang vor, der vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und zunächst in seinem Ablauf beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat. Mit dem Aufschlag war keine „plötzliche ungewöhnliche Kraftanstrengung“ iS der Versicherungsbedingungen verbunden. Es wird auf 7 Ob 1019/92 verwiesen. Auch hier werden leier keine Bedingungen zitiert.

Achillessehnenriss eines Fußballspielers beim Hallenfußball im Zuge einer schnellen, gewollten Drehbewegung mit anschließendem Sprint (7 Ob 5/01p): Als Unfall gelten auch folgende vom Willen des Versicherten unabhängige Ereignisse: Verrenkungen von Gliedern sowie Zerrungen und Zerreissungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln infolge plötzlicher Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf. Die Bedingungen sprechen hier – im Gegensatz zu der gegenständlichen Entscheidung – daher ausdrücklich von der „Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf“.

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