Eine trügerische Aufrechnung?

Eine trügerische Aufrechnung?

Kann eine beklagte Partei ein Gerichtsverfahren gleichermaßen gewinnen und verlieren?

Sachverhalt

Wir haben es diesmal mit einer GmbH zu tun, wir nennen sie AB-GmbH, welche zwei jeweils zur Hälfte beteiligte Gesellschafterinnen (A-GmbH und B-GmbH) und zwei gemeinsam vertretungsbefugte Geschäftsführer haben (A und B), die wiederum Alleingesellschafter und Alleingeschäftsführer der zwei Gesellschafterinnen sind. A und B streiten seit Jahren miteinander. Damit gibt es sowohl auf Gesellschafterebene als auch auf Geschäftsführerebene eine Patt-Situation. Es sind bereits unzählige Gerichtsverfahren anhängig, zum Teil rechtskräftig beendet. Für die diversen Gerichtsverfahren schreiten meistens Prozesskuratoren ein, weil die zwei Geschäftsführer nur gemeinsam vertretungsbefugt sind.

Konkretes Gerichtsverfahren

Im konkreten Gerichtsverfahren klagte A-GmbH gegen AB-GmbH Zinsen in der Höhe von ungefähr 12% für einen Kredit ein, den A-GmbH vor Jahren der AB-GmbH gewährt hatte. Der Zinssatz in der Höhe von 12% wurde vertraglich vereinbart. Diese Zinsen betrugen bei Klageeinbringung ungefähr € 800.000,-.

Die beklagte AB-GmbH bestritt die Berechtigung der eingeklagten Zinsen und wandte ein, dass A-GmbH von der AB-GmbH – ebenfalls vor Jahren – ohne Rechtsgrund fast eine Mio. Euro erhalten habe, was ein Verstoß gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr gewesen sei. Auf Grund dieses Verstoßes habe AB-GmbH einen Rückerstattungsanspruch in der Höhe dieser einen Mio. Euro zuzüglich Zinsen in der Höhe von 4% (gesetzlicher Zinssatz). Diesen Rückerstattungsanspruch wandte AB-GmbH im Gerichtsverfahren compensando ein.

Das Gerichtsverfahren lief mehrere Jahre (Kurator-Bestellung, mehrmaliger Richterwechsel, Corona usw.) und endete damit, dass das Handelsgericht Wien als Erstgericht sowohl die Klageforderung als auch die eingewandte Gegenforderung als zu Recht bestehend anerkannte. Es hat aber das Klagebegehren nicht abgewiesen, obwohl die als zu Recht bestehende Gegenforderung in der Höhe von einer Mio. Euro deutlich höher war, als die Klageforderung mit € 800.000,-, sondern der klagenden A-GmbH runde € 600.000,- zugesprochen. Wie das?

Argumente des Handelsgerichtes Wien (33 Cg 88/21x)

Das Handelsgericht Wien gestand zwar zu, dass das Klagebegehren abzuweisen gewesen wäre, wenn man die Verzinsung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht berücksichtigen würde. Dies wäre allerdings nicht sachgerecht gewesen. Es führte nicht aus, wieso das nicht sachgerecht gewesen wäre, vertrat jedoch die Ansicht, dass es berechtigt sei, das Klagebegehren im Urteilsspruch zu präzisieren, indem es die in der Klage bestimmten Zinsen bis zum Tag des Schlusses der mündlichen Verhandlung kapitalisierte, weil die Höhe sowie Laufzeit der Zinsen aus dem Sachvorbringen einwandfrei ableitbar seien (6 Ob 30/00f; Fucik in Fasching/Konecny3 § 405 Rz 7, RS0032047; 1 Ob 239/99z). Dasselbe machte das Handelsgericht Wien mit der Gegenforderung, zumal Gegenforderungen in jener Höhe zu bestimmen seien, wie sie am Tag des Schlusses der mündlichen Verhandlung bestanden (Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 §§ 391-392 Rz 13).

Auf Grund der Länge des Gerichtsverfahrens führte die Vorgehensweise des Handelsgerichtes Wien dazu, dass die an sich niedrigere Klageforderung mit ihren € 12% Zinsen die höhere Gegenforderung mit ihren nur 4% Zinsen überholte, was zu dem eigenartigen Ergebnis führt, dass die beklagte AB-GmbH trotz berechtigter Gegenforderung einerseits der klagenden A-GmbH runde € 600.000,- zu zahlen hätte, andererseits jedoch AB-GmbH kostentechnisch vollständig obsiegt hätte. Das Handelsgericht Wien sprach nämlich aus, dass die geltend gemachte Klageforderung die eingewandte Gegenforderung nicht überstieg, weswegen für die Kostenentscheidung von einem vollständigen Obsiegen der AB-GmbH auszugehen sei. A-GmbH sei daher verpflichtet, der beklagten AB-GmbH ihre Kosten zu ersetzen.

Berufung der AB-GmbH

AB-GmbH hat gegen diese erstinstanzliche Entscheidung Berufung an das Oberlandesgericht Wien erhoben und stützte sich dabei auf die zivilistische Theorie (Mindermeinung), welche der prozessualen Theorie (ständige Rechtsprechung) der Vorrang einzuräumen sei. Nach der zivilistischen Theorie tritt die Aufrechnungswirkung und somit die Tilgungswirkung bereits mit der Abgabe der prozessualen Aufrechnungserklärung ein, und nicht erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung (Holly in Kletečka/Schauer, ABGB-ON 1.06 § 1438 Rz 12 und 33; Dullinger in Rummel, ABGB3 § 1438 Rz 20; Dullinger, Handbuch 188 ff). Nach der zivilistischen Theorie hat eine prozessrechtliche Aufrechnung somit dieselbe Wirkung, wie eine Zahlung während eines Prozesses.

Ferner argumentierte AB-GmbH in ihrer Berufung, dass die Tilgungswirkung einer gerichtlichen Aufrechnungserklärung bis zu jenem Zeitpunkt zurückwirke, in dem sich Klageforderung und Gegenforderung das erste Mal aufrechenbar gegenübergestanden waren. Unter anderem führte AB-GmbH ins Treffen, dass es keinen Grund gebe (weder einen rechtlichen noch einen wirtschaftlichen), die Tilgungswirkung einer außergerichtlichen Aufrechnung anders zu beurteilen, als eine gerichtliche Aufrechnung. Ferner sei es unbillig, eine zurecht bestehende Gegenforderung, deren Verzinsung niedriger ist, als jene einer Klageforderung, durch den Zinsenlauf bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung schmälern zu lassen und damit die Klageforderung de facto aufzuwerten, obwohl sich Klageforderung und Gegenforderung bereits (lange) vor der gerichtlichen Aufrechnungserklärung aufrechenbar gegenüberstanden. Weiters vertrat AB-GmbH die Ansicht, dass bei Gerichtsverfahren, bei denen keine Gegenforderung eingewendet wird und es nur eine Verzinsung der Klageforderung gibt, der Beklagte die Klageforderung bezahlen und damit den Zinsenlauf stoppen könne (und bei tatsächlich unbegründeter Klage einen Bereicherungsanspruch geltend machen und die Zahlung zurückverlangen), während ein Beklagter mit einer berechtigten Gegenforderung dies nicht könne. Er könne nur eine gerichtliche Aufrechnungserklärung abgeben und, wenn seine Gegenforderung niedriger verzinst wird, als die Klageforderung, beten, dass das Gerichtsverfahren möglichst rasch geführt wird, und, wenn seine Gegenforderung höher verzinst wird, als die Klageforderung, hoffen, dass das Gerichtsverfahren möglichst lange läuft.

AB-GmbH ergänzte zu all dem, dass es absurd sei, wenn eine prozessuale Aufrechnungserklärung, die nach der ständigen Rechtsprechung im Zweifel als bedingte Erklärung zu verstehen ist, im Vergleich zu einer unbedingten Aufrechnungserklärung (die auch in einem Prozess als Schuldtilgungseinwand erklärt werden könne) zum Nachteil der beklagten AB-GmbH gereichen würde. Die Zweifelsregelung fuße darauf, dass einer beklagten Partei im Zweifel keine für sie nachteilige Erklärung unterstellt werden dürfe. Würde nun die Zweifelsregelung dazu führen, dass bei tatsächlichem Bestehen der Klageforderung durch die bedingte Erklärung ein für die beklagte Partei nachteiliges Ergebnis erzielt würde, wäre dieser Schutzgedanke arg pervertiert.

Berufungsbeantwortung der A-GmbH

Wenig überraschend räumte A-GmbH in ihrer Berufungsbeantwortung der prozessualen Theorie (ständige Rechtsprechung) den Vorrang ein und lehnte die zivilistische Theorie (Mindermeinung) ab.

A-GmbH unterschied zwischen einer außergerichtlichen Aufrechnungserklärung und einer gerichtlichen Aufrechnungseinrede: Eine Aufrechnungserklärung setze eine Anerkennung der behaupteten Klageforderung voraus, während eine Aufrechnungseinrede bloß bedingt sei, weil sie nur für den Fall erklärt werde, dass das Gericht die Klageforderung bejaht. Die prozessuale Aufrechnungseinrede werde also nur für den Fall erklärt, dass das Gericht die Klageforderung bejaht. Nur, wenn die Klageforderung zu Recht besteht, solle aufgerechnet werden. Mit anderen Worten: Ich werde erst (durch Aufrechnung) zahlen, wenn der Richter entscheidet, dass die Klageforderung zu Recht besteht. Logischerweise könne daher die Tilgungswirkung erst mit rechtskräftiger Entscheidung über die Klageforderung eintreten, denn davor bestehe die Klageforderung aus der Sicht der beklagten Partei nicht.

Dem Argument der AB-GmbH, die Klageforderung könne durch Zahlung während des Prozesses beglichen werden, und würde zur sofortigen Tilgung der Klageforderung führen, hielt A-GmbH entgegen, dass eine Zahlung von einem Anerkennen der Klageforderung ausgehe und eine allfällige Zahlung ex nunc wirke, sodass sie auch keine Rückwirkung biete.

Entscheidung des Oberlandesgericht Wien

Das Oberlandesgericht Wien erachtete die Berufung der AB-GmbH als berechtigt und gab dieser zur Gänze Folge.

Wenngleich das Oberlandesgericht zugestand, dass die Tilgungswirkung bei der prozessualen Aufrechnungseinrede erst mit dem Zeitpunkt der Rechtskraft feststehe, schloss es sich der jüngsten OGH-Entscheidung zu 10 Ob 2/23a an. In dieser prominenten VW-Abgasskandal-Entscheidung kaufte der Kläger vom Erstbeklagten (Händler) im Jahr 2015 ein von der Zweitbeklagten hergestelltes Fahrzeug, das vom „Dieselskandal“ betroffen war. Der Kläger forderte die Rückzahlung des Kaufpreises unter Abzug eines Benutzungsentgelts gegen Rückstellung des Fahrzeuges. Der OGH entschied in 10 Ob 2/23a, dass der Erstbeklagte sein Fahrzeug zurücknehmen und den Kaufpreis samt Zinsen zu ersetzen hat. Der Kläger musste sich jedoch im Gegenzug ein Benutzungsentgelt anrechnen lassen. Dieses Benutzungsenthalt wurde – zumindest zum Teil – vom Erstbeklagten aufrechnungsweise eingewendet. Der OGH sprach aus, dass der Erstbeklagte ab 23. Oktober 2019 nur noch Zinsen aus dem dem Kläger zuzusprechenden Betrag schuldete – daher der Differenz zwischen Klageforderung und Gegenforderung. Der 23. Oktober 2019 war der Tag, an welchem der Erstbeklagte die Gegenforderung eingewendet hat. Der OGH begründete den Zeitpunkt damit, dass dem Vorbringen des Erstbeklagten nicht zu entnehmen war, wann die Aufrechnungslage vor diesem Zeitpunkt entstanden wäre. Der OGH betonte in diesem Zusammenhang außerdem, dass auch bei der gerichtlichen Aufrechnung auf die Rückwirkung Bedacht zu nehmen ist.

Das Oberlandesgericht Wien führte deswegen in „unserem“ Fall aus, dass der OGH die außergerichtliche und gerichtliche Aufrechnung gleichbehandle, weswegen auch eine Prozessaufrechnung zurückzubeziehen sei und zwar auf den Zeitpunkt, in welchen sich die beiden Forderungen erstmals fällig gegenübergestanden seien. Ab diesem Zeitpunkt könnten auch keine Zinsen mehr anfallen.

Es handelt sich aus unserer Sicht nicht nur um ein rechtliches, sondern insbesondere auch wirtschaftlich richtiges Ergebnis.

Das Oberlandesgericht Wien hat die ordentliche Revision nicht zugelassen. Es bleibt deswegen spannend, ob die klagende Partei – trotz brandaktueller Rechtsprechung zu diesem Thema – eine außerordentliche Revision einbringt.

Empfehlung

Bis zu OGH-Entscheidung achten Sie bei jeder gerichtlichen Aufrechnungseinrede, ob Ihre Gegenforderung mit einem niedrigeren Prozentsatz zu verzinsen ist, als die Klageforderung, denn das kann bei einem langen Gerichtsverfahren teuflische Folgen haben. Eine niedrigere Klageforderung könnte Ihre höhere Gegenforderung überholen!

Mitautorin dieses Blog-Beitrags: Florentine Wenger

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