Freier Normzugang: Was Spielzeugsicherheit und Baurecht gemeinsam haben

Freier Normzugang: Was Spielzeugsicherheit und Baurecht gemeinsam haben

Die folgende Entscheidung behandelt die freie Zugänglichkeit zu Europäischen Normen. Der EuGH urteilt, dass die Kommission zwei NGOs freien Zugang zu vier Normen aus dem Bereich Spielzeugsicherheit gewähren muss, die ansonsten nur entgeltlich zu erwerben wären. An der Verbreitung dieser Dokumente besteht nämlich ein überwiegendes öffentliches Interesse. Die Entscheidung bzw. deren Auswirkungen könnten in Zukunft durchaus auch für nationale (darunter österreichische) Normungsinstitute von Interesse sein.

Allgemeines zu europäischen Normen

Zum besseren Verständnis der gegenständlichen Entscheidung muss das europäische Normungssystem etwas näher beleuchtet werden. Die offizielle EU-Website „Your Europe“ beschreibt entscheidungswesentliche Eckpunkte wie folgt:

Normen sind nicht verbindliche Leitlinien mit technischen Spezifikationen für beispielweise Produkte, Dienstleistungen und Verfahren (z. B. Industrieschutzhelme, Auflader für elektronische Geräte, Dienstleistungsniveaus in öffentlichen Verkehrsmitteln). Normen werden von privaten Normungsgremien in der Regel auf Initiative von Interessenträgern entwickelt, die einen entsprechenden Bedarf ermittelt haben.

Die Einhaltung von Normen ist zwar freiwillig, stellt aber unter Beweis, dass Waren und Dienstleistungen sich durch ein bestimmtes Maß an Qualität, Sicherheit und Zuverlässigkeit auszeichnen.

Gelegentlich wird in Rechtsvorschriften auf Normen verwiesen. In diesem Fall kann die Beachtung einer Norm zur Einhaltung von Rechtsvorschriften bezüglich Sicherheit ausdrücklich empfohlen oder in bestimmten Fällen sogar vorgeschrieben werden.

So genannte Europäische Normen werden von europäischen Normungsorganisationen (darunter auch das Europäische Komitee für Normung [CEN]) erarbeitet.

Harmonisierte Normen sind eine besondere Kategorie europäischer Normen, deren Erarbeitung von der Europäischen Kommission bei einem europäischen Normungsgremium in Auftrag gegeben wird.

Mit der Einhaltung harmonisierter Normen wird unter Beweis gestellt, dass Produkte oder Dienstleistungen im Einklang mit den technischen Anforderungen der einschlägigen EU-Rechtsvorschriften stehen (siehe: https://europa.eu/youreurope/business/product-requirements/standards/standards-in-europe/index_de.htm).

Hintergrund und Gang des Verfahrens

Vorab zum rechtlichen Hintergrund der Entscheidung: Die VO Nr. 1049/2001 regelt – stark vereinfacht ausgedrückt – den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (der Europäischen Union). Gemäß Art 4 Abs 2 erster Gedankenstrich VO Nr. 1049/2001 kann der Zugang zu einem Dokument verweigert werden, wenn dies dem Schutz geschäftlicher Interessen einer natürlichen oder juristischen Person (einschließlich des Schutzes des geistigen Eigentums) dient, die durch die Verbreitung des Dokuments beeinträchtigt würden. Sollte diese Ausnahme zutreffen, kann dennoch ein Anspruch auf Zugang bestehen, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung des Dokuments besteht.

Nun zum Verfahren: Die NGOs Public.Resource.Org Inc. und Right to Know CLG beantragten von der Kommission freien Zugang zu vier harmonisierten Normen des CEN (betreffend die Sicherheit von Spielzeugen). Die Kommission lehnte den Antrag ab und stützte sich dabei auf Art 4 Abs 2 erster Gedankenstrich VO Nr. 1049/2001 (Schutz geschäftlicher Interessen von natürlichen und juristischen Personen samt geistigem Eigentum). Eine Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses scheiterte vor dem Gericht erster Instanz der Europäischen Union (EuG). Es war der Ansicht, dass die Normen urheberrechtlich geschützt und ihre Verbreitung die geschäftlichen Interessen der CEN und seiner nationalen Mitglieder beeinträchtigen könnten, sowie kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung der Dokumente bestünde.

Gegen dieses Urteil erhoben die NGOs Rechtsmittel an den EuGH, mit der Begründung, dass folgende Rechtsfehler begangen wurden: 1. Das Gericht habe die Anwendbarkeit der Ausnahme des Art 4 Abs 2 erster Gedankenstrich VO Nr. 1049/2001 (Schutz geschäftlicher Interessen von natürlichen und juristischen Personen samt geistigem Eigentum) in Bezug auf die angeforderten Normen (rechtsirrig) bejaht. 2. Das Gericht habe ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung der angeforderten Normen (rechtsirrig) verneint.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH befasst sich lediglich mit dem zweiten Rechtsmittelgrund, dass an der Verbreitung der angeforderten harmonisierten Normen ein überwiegendes öffentliches Interesse bestünde, welches allerdings fälschlicherweise von dem Gericht nicht anerkannt wurde.

Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass eine harmonisierte Norm, welche auf Grundlage einer Richtlinie angenommen wurde und deren Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden, aufgrund ihrer Rechtswirkung Teil des Unionsrechts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, James Elliott Construction, C‑613/14, EU:C:2016:821, Rn. 40).

Dazu erwägt der EuGH folgendes:

  • Das Verfahren zur Normsetzung ist in der VO Nr. 1025/2012 festgelegt, wobei der Kommission dabei eine zentrale Rolle zukommt. Es wird zwar mit der Ausarbeitung von harmonisierten Normen (mit dem CEN) eine privatrechtliche Einrichtung betraut, allerdings ist nur die Kommission befugt, einen Normungsauftrag zu erteilen. Die Kommission bestimmt die weiteren Modalitäten, überwacht die Ausarbeitung, stellt die Finanzierung und entscheidet über die Veröffentlichung im Amtsblatt.
  • Obwohl harmonisierte Normen keine zwingende Wirkung haben, löst deren Einhaltung die sogenannte Konformitätsvermutung aus. Es wird also bei Produkten, die diese Normen einhalten, vermutet, dass sie im Einklang mit den Anforderungen der einschlägigen EU-Rechtsvorschriften stehen. Diese Wirkung macht die Normen zu einem wesentlichen Werkzeug der Wirtschaftsteilnehmer, um das Recht auf freien Verkehr von Waren oder Dienstleistungen (europäische Grundfreiheit) auszuüben. Es ist für die Wirtschaftsteilnehmer schwierig oder gar unmöglich, auf ein anderes Verfahren zurückzugreifen als den Konformitätsnachweis mithilfe harmonisierter Normen
  • Im gegenständlichen Fall nehmen drei der harmonisierten Normen Bezug auf eine bestimmte europäische Richtlinie. Ihre Fundstellen wurden außerdem im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Eine der Normen wirkt überhaupt, obwohl das in der Regel nicht der Fall ist, zwingend (über den Verweis in einer VO).

Nach all diesen – doch ausführlichen Erwägungen – kommt der EuGH zum Schluss, dass alle der vier gegenständlichen Normen Teil des Unionsrechts sind.

Im nächsten Schritt wird vom EuGH ausgeführt, dass Art. 2 EUV vorsieht, dass sich die Union auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gründet, der einen freien Zugang zum Unionsrecht für alle natürlichen und juristischen Personen der Union sowie die Möglichkeit für den Einzelnen verlangt, seine Rechte und Pflichten eindeutig erkennen zu können (Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieser freie Zugang muss es jeder durch ein Gesetz geschützten Person ermöglichen, zu überprüfen, ob die Adressaten den Regeln dieses Gesetzes auch tatsächlich nachkommen.

Eine harmonisierte Norm kann durch die Wirkungen, die ihr eine Unionsvorschrift verleiht, die Rechte und Pflichten Einzelner näher bestimmen. Diese kann erforderlich sein, damit der Einzelne prüfen kann, ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung tatsächlich die Anforderungen einer solchen (Unions-)Vorschrift erfüllt.

Mit anderen Worten: Jeder Rechtsunterworfene muss seine Rechte und Pflichten kennen, und auch die Möglichkeiten haben zu bestimmen, ob andere Rechtsunterworfene sich beim Anbieten von Produkten oder Dienstleistungen an die Vorschriften halten, die wiederum durch harmonisiertes Normen präzisiert werden können.

Zuletzt zeigt der EuGH auf, dass der Grundsatz der Transparenz untrennbar mit dem Grundsatz der Offenheit (primärrechtlich verankert) verbunden ist. Er gewährleistet u. a. eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System (Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zu diesem Zweck garantiert Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV ein Recht auf Zugang zu Dokumenten, das außerdem in Art. 42 der Charta verankert ist (primärrechtliche Ebene). Dieses Recht wurde ua durch die VO Nr. 1049/2001 (streitgegenständliche VO) umgesetzt, deren Art. 2 Abs. 3 vorsieht, dass sie für alle Dokumente gilt, die sich im Besitz des Parlaments, des Rates oder der Kommission befinden (Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 36).

Im Ergebnis stellte der EuGH nach den obenstehenden Erwägungen fest, dass an der Verbreitung der angeforderten harmonisierten Normen ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht (und damit grundsätzlich der Zugang zu den Dokumenten zu gewähren wäre). Das Urteil des Gerichts wird aufgehoben und der Beschluss der Kommission für nichtig erklärt.

Ausblick

Spannend bleibt insbesondere welche Auswirkungen diese Entscheidung auf nationale Normungsinstitute und ihr Angebot haben wird. Zumal beispielsweise harmonisierte Ö- oder DIN-Normen in der Regel nicht kostenfrei zur Verfügung stehen und gegen Entgelt erworben werden müssen.

Aber welche Normen fallen nun unter die Entscheidung des EuGH und müssen künftig möglicherweise kostenfrei sein?

Hier muss man zunächst zwischen den in Österreich gängigen Normtypen unterscheiden:

  • Hier gibt es zunächst einmal EN-Normen. Diese sind europäische Normen, die von CEN, CENELEC oder ETSI entwickelt wurden. Sie decken verschiedene Bereiche ab, von Produktsicherheit über Umweltschutz bis hin zu Kommunikationstechnologien und sind in aller Regel harmonisiert.
  • Weiters kommen sehr häufig ÖNORMEN oder DIN-Normen vor. ÖNORMEN werden von „Austrian Standards International – Standardisierung und Innovation“ erarbeitet und über die „Austrian Standards plus GmbH“ vertrieben (früher hieß die Einrichtung „Österreichisches Normungsinstitut“). DIN-Normen sind deutsche Normen, die vom Deutschen Institut für Normung (DIN) entwickelt werden. Einige der ÖNORMEN und DIN-Normen sind harmonisiert und werden als EN-Normen übernommen, andere nicht.
  • Letztlich gibt es noch ISO-Normen. Diese sind internationale Normen, die von der Internationalen Organisation für Normung (ISO) entwickelt werden. ISO-Normen sind nicht automatisch harmonisiert, können aber in die europäische Gesetzgebung einfließen, wenn sie relevant sind.

Unter die EuGH-Entscheidung fallen also alle von den Europäischen Normungsinstituten herausgegebenen Normen und ÖNORMEN, DIN-Normen oder ISO-Normen, sofern diese harmonisiert sind. Somit fallen „reine“ (also nicht harmonisierte) Industrienormen, die nur von bestimmten Branchen oder Unternehmen erstellt wurden, nicht darunter. Nationale Normen außerhalb der EU, also Normen, die außerhalb der EU entwickelt wurden, sind ebenfalls nicht Teil des europäischen Rechtsrahmens und von der EuGH-Entscheidung nicht erfasst.

zurück